2013-09-21. FUNDSTÜCK #1.

Ich zitiere einen Artikel von Lina Timm aus dem Focus: Briefwahl-Skandal: Bleiben Tausende Wähler ohne Stimme?

Die Briefwahl ist in diesem Jahr beliebt wie nie – nun häufen sich die Fälle, in denen die Unterlagen nie beim Wähler angekommen sind. Viele Briefwähler haben nun keine Chance mehr, ihre Stimme noch rechtzeitig abzugeben.
Erst bekam Markus Werner keine Wahlbenachrichtigung, dann verschwanden seine Briefwahlunterlagen auf dem Weg zu ihm. Der 37-Jährige will unbedingt wählen, aber seine Stimme scheint nun verloren. Werner sitzt im Rollstuhl, weil sein Wahllokal nicht barrierefrei ist, beantragte er die Briefwahl. »Das Wahlamt hat sie auch am 12. September verschickt, aber mein Briefkasten blieb leer«, sagt Werner. Er hakte beim zuständigen Wahlamt in Hamburg nach. »Am Telefon sagten sie mir, dass es momentan Probleme mit der Post gäbe. Bis zu zehn Tage bräuchte die Zustellung der Unterlagen.« Zu lang für die Briefwahl.

Überall im Bundesgebiet melden die Wahlämter Rekordzahlen bei den Briefwählern. Mehr als 20 Prozent der Wahlberechtigten geben in diesem Jahr statt im Wahllokal ihre Stimme per Post ab – sofern sie einen Stimmzettel bekommen. Denn einen Tag vor der Wahl melden sich immer mehr Menschen, die nie ihre Unterlagen erhalten haben. Der Hamburger Landtagsabgeordnete Dennis Gladiator, 32, kennt allein in seinem Bezirk drei Fälle, in denen Briefwahlunterlagen nicht angekommen sind. »Bei früheren Wahlen habe ich nie von so etwas gehört«, sagt Gladiator.

Briefwähler gesperrt
Markus Werner könnte nun theoretisch noch am Sonntag ins Wahllokal fahren, dort bekäme er aber Schwierigkeiten. Denn Briefwähler sind für die persönliche Wahl erst einmal gesperrt, damit niemand doppelt wählt. In Nürnberg rufen die Behörden deshalb am Freitag vor der Wahl extra noch einmal dazu auf, sich bei fehlenden Briefwahlunterlagen zu melden. »Bis Samstag, 12 Uhr, können noch Ersatzwahlunterlagen beantragt werden. Danach haben wir ein Problem«, sagt Wolf Schäfer, Wahlleiter in Nürnberg. Denn versichert der Wähler, dass er nie Unterlagen bekommen hat, muss das im Wahlamt erst überprüft werden. »Und das können wir am Sonntag kaum leisten.«

All das geht ohnehin nur persönlich. Das Nachsehen hat also, wer am Sonntag nicht in seinem Wahlbezirk ist. So wie Marleen Otten. Sie wartet schon seit dem 9. September vergeblich auf ihre Unterlagen. Die 21-Jährige beantragte die Briefwahl in Göttingen, weil sie momentan im 300 Kilometer entfernten Peheim wohnt. Vergangenen Dienstag fragte sie bei der Behörde nach, wo der Wahlzettel denn bliebe. »Es hieß, es sei alles korrekt bearbeitet worden. Der Fehler liege wohl an der Post. Da könne man nichts weiter tun«, sagt Otten.

Bundesweites Problem
Während ihre Stimme nun verloren ist, konnte Tobias Wißmann aus Frankfurt am Main sie gestern noch im letzten Moment abgeben. Er hatte die Briefwahl ebenfalls Anfang September beantragt, versandt wurde nachweislich am 12. September. Weil bis Freitag noch immer nichts ankam, lief er quer durch die Stadt zum Briefwahllokal. »Es schien, als wäre das Problem dort schon bekannt, sie hatten sofort das passende Formular parat«, sagt Wißmann. Er beantragte neue Unterlagen und wählte gleich vor Ort.
So wie Werner, Otten und Wißmann geht es anscheinend vielen Wahlberechtigten in Deutschland. Beim Kurznachrichtendienst Twitter häufen sich die Berichte von fehlenden Wahlunterlagen. Allen ist es so wichtig, zu wählen, dass sie eigens den Aufwand des Briefwahlantrags auf sich nehmen. Die Nutzer, die sich über Behörden und Post aufregen, stammen aus Hamburg, Kiel, Berlin, dem Ruhrgebiet – es scheint also ein bundesweites Problem zu sein. Doch bei der Deutschen Post kann man sich diese Schwierigkeiten nicht erklären.

»Wir haben hochmoderne Briefzentren und eine gemessene Zustellquote von 95 Prozent am nächsten Werktag«, sagt Konzernsprecher Alexander Edenhofer. Dass die Zusteller durch die erhöhte Anzahl von Briefwählern überlastet sind, schließt er aus. Sie würden jeden Tag 64 Millionen Briefe bearbeiten, zur Weihnachtszeit das Doppelte. »Da fallen die zusätzlichen Wahlbriefe nicht auf.«

Oliver Rudolf vom Hamburger Landeswahlamt weiß von verschwundenen Unterlagen nichts. »Wir haben keine signifikante Häufung festgestellt. Einzelfälle kann ich aber natürlich nicht ausschließen.« Knapp 300 000 Briefwahlunterlagen wurden bisher in Hamburg zur Bundestagswahl ausgegeben, zehn Prozent mehr als vor vier Jahren. Für die Mitarbeiter in den Wahlämtern bedeutet das Mehrarbeit. Rudolf besteht darauf, dass sie von den Zahlen nicht überrascht worden seien. »Die Quote von Briefwählern war schließlich schon letztes Mal hoch.«

Immer mehr Menschen wählen per Brief
Die Metropolen Hamburg, Berlin und München zählen mittlerweile allein mehr als eine Million Briefwähler. Seit 2008 muss beim Antrag kein Grund mehr angegeben werden, warum man nicht persönlich im Wahllokal erscheinen kann. Vermutlich steigen die Zahlen auch deshalb so immens.

München hatte im Zuge der bayerischen Landtagswahl vergangene Woche eine Steigerung von 80 Prozent an Briefwählern gegenüber der letzten Wahl, zwischenzeitlich kamen die Wahlämter mit der Bearbeitung der Anträge nicht hinterher. Die Folge: 5000 ausgefüllte Stimmzettel erreichten die Behörden in München erst nach der Wahl. »Bei der Bundestagswahl bearbeiten wir die Anträge aber seit Dienstag tagesaktuell, haben also keinen Rückstand mehr«, sagt der stellvertretende Wahlleiter Peter Günther.

Beschwerde hilft wohl nicht mehr
Nicht bearbeitete Anträge kennt auch Jörg Fischer aus Berlin. Vor Wochen schon kümmerte sich der 44-Jährige um die Briefwahlunterlagen, die Behörde hätte den Stimmzettel aber erst vorgestern verschickt. Zu dem Zeitpunkt stand Fischer schon selbst im Amt, um sich zu beschweren.
Eine Beschwerde hilft den meisten Briefwählern jetzt aber auch nicht mehr. Denn viele nutzen diese Wahlart gerade, weil sie am Sonntag nicht in ihrem Heimatort sind. Ihre Stimme ist nun verloren. Denn selbst wenn bei ihnen noch Unterlagen eintreffen – gezählt wird nur der Stimmzettel, der bis Sonntag um 18 Uhr das heimatliche Wahllokal erreicht. Und das schafft die Post selbst mit Zustellquote jetzt definitiv nicht mehr.

[Quelle, wie auch oben genannt: Lina Timm vom Focus Verlag, Artikel: Briefwahl-Skandal: Bleiben Tausende Wähler ohne Stimme?]